Experte zweifelt an Soloakt bei Nordstream-Anschlag
Untersuchung von Profitaucher
Am 26. September 2022 wurden drei der vier Nordstream-Pipelines in der Ostsee durch mehrere Sprengsätze zerstört. Bis heute ist nicht vollständig geklärt, wer genau hinter dem Anschlag auf den Gastransit zwischen Deutschland und Russland steckt. Ermittler vermuten seit einigen Monaten, dass eine kleine zivile Gruppe von ukrainischen Tauchern die Tat verübt haben soll. Der Ex-Geheimdienstler Roman Tscherwinsky soll die Aktion angeleitet und geplant haben. Die Crew hätte demnach mithilfe des 15 Meter langen Segelschiffs „Andromeda“ die Sprengsätze in die Tiefe manövriert.
Expertenmeinung: Mehrere Teams notwendig
Diese Theorie wird von Sven Thomas, Leiter der Wasserrettung in Halle (Saale), entschieden widersprochen. Im Gespräch mit der „Bild“ betonte er, dass die Mannschaft der „Andromeda“ die Aktion „unmöglich“ alleine hätte durchführen können. „Es muss – mindestens – ein weiteres Team gegeben haben, um die gewaltigen Explosionen zu verursachen!“, so Thomas. Er und andere Tauchexperten haben das Schadensbild der Explosionen, die nötige Ausrüstung für die Tauchgänge, die Route der „Andromeda“, Wetter und Seegang zum Tatzeitpunkt genauestens ausgewertet. Sein Fazit: „So, wie viele Medien und staatliche Ermittler es darstellen, kann es nicht gewesen sein.“
Technische Unmöglichkeiten
Thomas sieht mehrere Unstimmigkeiten und Widersprüche zur bisherigen „Andromeda“-Version. Der Einmaster hatte nur einen 25 Kilogramm schweren Anker, der knapp 100 Meter in die Tiefe reicht, während die Gas-Pipelines sich in 90 Meter Tiefe befanden. „25 Kilo Ankermasse sollen 17 Tonnen Boot und Ausrüstung stabil halten? Unmöglich“, sagte Thomas. Zudem wäre die für die Aktion benötigte Ausrüstung, einschließlich des Sprengstoffs, viel zu schwer für das Schiff gewesen. Thomas schätzt, dass die gesamte Ausrüstung „mindestens 4 Tonnen Gepäck“ umfassen würde, was die „Andromeda“ nicht hätte transportieren können. Auch die Sprengsätze selbst wären zu groß gewesen, um ohne Kran und Gegengewichte ins Wasser gebracht zu werden, sonst hätte das Boot gekentert.
Schwierige Bedingungen
Zur Tatzeit herrschten bis zu drei Meter hohe Wellen und Windgeschwindigkeiten von bis zu 40 km/h, was die Bedingungen zusätzlich erschwerte. Thomas und seine Kollegen kommen daher zu dem Schluss, dass die „Andromeda“ rein technisch nur eine der vier Explosionen hätte verursachen können. „Es waren mindestens zwei Teams unterwegs, mit völlig unterschiedlicher Ausrüstung und Vorgehensweise“, so Thomas.
Politische und wirtschaftliche Implikationen
Die Nord-Stream-Leitung war bis zur Jahresmitte 2022 die wichtigste Gas-Bezugsquelle für die EU. Nach dem militärischen Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 begannen viele EU-Staaten, ihre Erdgasimporte aus Russland zu reduzieren. Dennoch war die Leitung mit Gas voll angefüllt, als die Explosionen stattfanden. Schätzungen zufolge entwichen durch die Explosionen 300 bis 500 Millionen Kubikmeter Methangas an die Meeresoberfläche und in die Erdatmosphäre.
Aktuelle Gastransitrouten
Derzeit gibt es noch drei aktive Gastransitrouten von Russland nach Europa. Neben Tankerladungen mit verflüssigtem Erdgas (LNG) strömten über den weiterhin funktionierenden Ukraine-Transit 4,1 Milliarden Kubikmeter in die EU-Staaten. Im dritten Quartal nahmen die Lieferungen über die von Gazprom finanzierte Schwarzmeer-Pipeline TurkStream um knapp 15 Prozent zu. Der Grund: Einige europäische Staaten können aufgrund des konstanten Bedarfs zur Energiegewinnung und langfristigen Lieferverträgen nicht auf Erdgas aus Russland verzichten.
Die Diskussionen um die Nordstream-Sprengung und die daraus resultierenden politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen zeigen deutlich, wie komplex und vielschichtig die Abhängigkeiten und Interessen in der europäischen Energiepolitik sind. Es bleibt abzuwarten, welche weiteren Erkenntnisse die Ermittlungen noch zutage fördern werden und welche politischen Maßnahmen daraus resultieren.
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